english deutsch KILIAN FOERSTER
»An meine lieben Freunde.
Die streng-religiösen Holzköpfe ohne eigene Gedanken, die Teil unserer Bewegung1 waren, haben sich nur wichtigtuerisch geäußert, weil sie die Iraner einzig und allein in ihrem Sinne überzeugen und für ihre persönlichen Interessen benutzen wollten. Auf diese Art und Weise haben diese Holzköpfe die Iraner für ihre eigene Bewegung aufgewiegelt, provoziert und manipuliert. Und warum? Die Leute sind hinter den Mullahs hergelaufen, weil sie Freiheit, die eine Säule der Demokratie ist, erreichen wollten. Und so gelang es den Mullahs, ihre - historisch gesehen - steinzeitlichen Standpunkte durchzusetzen.
Haben wir überhaupt Intellektuelle - damals und heute?
Und welche Bedeutung hat ein Intellektueller?
Wussten Schriftsteller wie Dschalal Al-e Ahmad, Behazin, Ehsan Tabari, Djavad Seyed Djavadi... und ebenso Philosophen wie Dariush Shayegan nicht, dass sich Demokratie nicht unter dem Gewand der Mullahs versteckt und folglich auch nach der Revolution nicht erscheinen konnte? In meinem ganzen Leben habe ich nur aus den Schriften zweier Personen etwas gelernt: Damit ich meinen Weg finde und unsere Gesellschaft in ihrer ganzen Tiefe und Widersprüchlichkeit verstehe. Diesen beiden Intellektuellen ist es mit ihrer Gesellschaftsanalyse gelungen, die eigene Zukunft vorauszusehen.
Es waren der erleuchtete Ahmad Kasravi2 und Khalil Maleki3, die einen klarsichtigen Blick auf die Zukunft unserer Gesellschaft hatten - etwas, was den anderen ›selbst ernannten Intellektuellen‹ fehlte. Die ›selbst ernannten Intellektuellen‹ verhielten sich wie der Zeiger einer Waage und schwankten zwischen rechts und links und haben niemals solch eine tiefe Erkenntnis erreicht. Diese ›Intellektuellen‹ haben über Demokratie und Unfreiheit gesprochen, ohne nur die geringste Ahnung davon zu haben, was Demokratie im europäischen Sinne tatsächlich bedeutet und ohne die Geschichte und den Entwicklungsprozess der Demokratie in Europa zu verstehen. Und sie wussten nichts über die Psyche und die Gedanken der Menschen aus den verschiedenen, sozialen Schichten der Gesellschaft.
Leider haben Iraner die Schriften von Kasravi und Maleki nicht verstanden, sodass sie leicht auf den falschen Weg geleitet werden konnten. Iraner waren eifrige Mitläufer in einem Plan, der von den Großmächten (USA, England) entwickelt wurde.
Die westlichen Mächte machten dem Schah Angst, da sie die größte Gefahr bei den Kommunisten und Linken sahen, während gleichzeitig zahlreiche Koranschulen seit dem Aufstand von Chomeini im Jahre 1963 errichtet wurden.
Der Schah hat sich wegen der westlichen Beratung von den Geistlichen entfernt, sodass diese ihre eigenen Ideen weiter verbreiten konnten. Ich erinnere mich, dass der Mullah Sangeladji - unser Theologe an der Universität Teheran - in Zusammenarbeit mit der Universität auf einer Wiese vor der Universität eine Moschee aufgebaut hat. Dreimal am Tag ertönte der Ruf des Muezzins aus den Minaretten dieser Moschee. Und die Studenten - besonders solche, die aus kleineren Städten kamen - sind in die Moschee gegangen und haben dort gebetet. Die linksorientierten Intellektuellen sind den bekannten Gesichtern der engstirnigen Religiösen aus der Koranschule hinterhergelaufen und sie sind sogar geschlossen und ohne nachzudenken den Gedanken von Seyed Jamal Asadabadi gefolgt.
Warum haben Soziologen und Anthropologen nicht die nackte Wahrheit erkannt, die bei den Leuten sehr gut angekommen ist, sodass religiöse Ideen in der Gesellschaft als normal angesehen wurden?
Oh Ali - Du - der Du der Größte von Gottes Liebe bist,
was für ein Zeichen von Gott bist Du,
dass Du für jeden Einzelnen von uns,
deine Liebe wie Homas4 Schatten verteilt hast.
Ich kann Dich weder als Gott noch als Mensch erkennen.
Ich frage mich, wie ich Dich bezeichnen soll.
Du bist der König vom Land der Liebe.
(Schahriar)5
Dieses Gedicht zeigt, wie Iraner jemand vergöttern, der in der Vergangenheit Iraner gefoltert und getötet hat. Und es zeigt, wie sich dieser Glaube in den Herzen der Iraner festgesetzt hat, die nicht nachgedacht haben.
Mit seiner Nähe zu Hafez hat Schahriar Hafez niemals wirklich verstanden, sonst hätte Schahriar nicht so etwas geschrieben. Hafez, dieser unvoreingenommene Mensch, lebte vor 500 Jahren und hat schon damals offen und direkt die Geistlichen kritisiert und dagegen fällt Schahriar im zwanzigsten Jahrhundert soweit wieder zurück!
Ich brauche so viele Worte, um den Schmerz meines gebrochenen Herzens auszudrücken. Das alte Leid, diese Wunde blutet immer noch. Ich bin erstaunt, warum es uns nicht gelingt, die Schmerzen dieser Wunde zu lindern und warum wir die Gegenwart und Zukunft nicht noch einmal neu gestalten können.
Wie ungerecht, dass wir Gefangene in diesem Teufelskreis geworden sind.«
—18.05.2020 Giti Pourfazel
1 Bewegung bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die gesamte Opposition und Protestbewegung gegen den Shah Mohammad Reza Pahlavi
2 Ahmad Kasravi (1890-1946) war ein iranischer Sprachwissenschaftler, Historiker, Jurist, zum Mullah ausgebildeter, aber schon in jungen Jahren säkularer Religionskritiker. Kasravi wurde von Islamisten ermordet, nachdem hochrangige Kleriker eine Fatwa gegen ihn erlassen hatten.
3 Khalil Maleki (1901-1969) war ein iranischer Politiker der Sozialisten und stand intellektuell der Nationalen Front nahe.
4 Homa ist ein Vogel aus der persischen Mythologie
5 Schahriar (1906-1988) oder Seyyed Mohammad Hossein Behjat-Tabrizi war ein aserbaidschanisch-iranischer Dichter
»Ich habe es niemals bereut, dass ich nicht an dem gefälschtem Referendum für die Islamische Republik Iran (1979) teilgenommen habe.
Ich habe es niemals bereut, dass ich nicht blind an Religion geglaubt habe.
Und von Anfang an, als einige Leute sagten, dass er nur eine Partei namens Hisbollah1 gibt, habe ich meine Ohren verschlossen und mich gleichzeitig gegen jede religiöse Ungerechtigkeit gestellt.
Ich habe es niemals bereut, dass ich an keiner Wahl nach 1979 teilgenommen und meine Stimme keinem Präsidenten gegeben habe. Ich habe es niemals bereut, dass ich nicht auf den Betrug der Roben- und Turbanträger hereingefallen bin und eben sowenig auf die Anzugträger, die von ersteren unterstützt wurden; selbst bei der Wahl von Mohammad Khatami, welche viele Menschen mit der Hoffnung auf eine Veränderung verbunden hatten.
Ich habe es niemals bereut, dass ich wegen meiner scharfen Sprache und Schriften und meiner Kompromisslosigkeit gegenüber Arbeitskollegen, die von religiösen Führern beeinflusst waren, meine Arbeitslizenz für 14 Jahre verloren habe.
Viele Arbeitslizenzen wurden später wieder erteilt, nachdem sie erst grundlos entzogen worden sind.
Ich habe es niemals bereut, dass ich in meinem Leben all die materiellen und Schwierigkeiten erfahren haben, die mir die Gottlosen und Geldgierigen zugefügt haben. Diese Gottlosen benutzen die Religion nur als Werkzeug, um die Iraner, für die Ehrlichkeit an erster Stelle steht, zum Stehlen, Lügen und zur Feindschaft anzuleiten.
Ich habe es niemals bereut, dass ich dem Weg von Hafez gefolgt bin und es ist interessant, wie mir diese Erleuchtung von Hafez zuteil wurde.
Ich habe es niemals bereut, dass ich wie Rumi verstanden habe, dass Gott keine Vermittler für seine Wahrheit braucht, die das Volk zerstören, weil sie den Menschen das eigene Denken abnehmen. Ich habe diese göttliche Gnade abgelehnt, da diese Vermittlung die Zerstörung des Volkes bedeutet.
Vor diesem Hintergrund habe ich es niemals bereut, dass ich allein als Frau von Anfang an für die Gleichheit, Freiheit und Menschenrechte von Mann und Frau eingetreten bin, während gleichzeitig die Menschen hier manipuliert worden sind und die Großmächte dabei kooperiert haben, indem letztere nur ihren eigenen Interessen gefolgt sind.
Ich bin aufgestanden. Ich bin laut geworden. Ich habe zur Vorsicht und Wachsamkeit gemahnt. Die ausländischen Mächte versuchten, ihre eigenen Interessen indirekt über unseren Glauben und die Religion durchzusetzen und uns in einen Schlachthof zu treiben. Meine stark geblendeten Kollegen sagten mir damals, dass ich es nicht wüsste und verstehen würde, die Freiheit wäre unterwegs und mein Land würde sich aus der Unterdrückung der Großmächte befreien.
Ohne Nachdenken gibt es in keiner Religion Freiheit und Gleichheit, weil die religiösen Gesetze nur auf Gott beruhen und für Weisheit und freies Denken kein Platz ist. Meine Kollegen haben sich jedoch gegen mich gestellt, weil sie nicht die Schriften von wichtigen, religiösen Meistern gelesen hatten. Oder in den Worten von Rumi: Dumme Leute verneigen sich vor einer Moschee und zwingen andere Leute auch noch zu dieser Dummheit.
Der Anwaltskammer und ihrer Führung ist es niemals gelungen, mich zum Schweigen zu bringen und bis heute führe ich mit dieser Kammer einen unerbittlichen Krieg. Deswegen wurde ich auch niemals im Vorstand dieser Kammer akzeptiert.
Ich habe es niemals bereut, dass ich als Iranerin, die ihre Heimat liebt, mein Land mit den Möglichkeiten, die ich hatte, nicht verlassen habe und meine Muttersprache schätze und bis heute pflege.
Iranische Frauen folgen ihren Vorbildern, der mutigen Gord Afarid, der weisen Sindokht und Katayoun und der liebevollen und treuen Thamineh und Roodabeh.2
Iranische Frauen sind nicht unterwürfig und folgen nicht blind jedem fremden Gedanken, der von ihnen verlangt wird.
Eher wenden sich iranische Frauen an der Gott des Wissens und der Weisheit, weil es nichts gibt, was über den Gedanken Gottes steht.«—23.05.2020 Giti Pourfazel
1 Hisbollah bedeutet wörtlich übersetzt die Partei des Gottes Allah
2 Diese Frauen sind wichtige Persönlichkeiten in der iranischen Mythologie.
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