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Natascha, Psychologin im Promirzentrum, wo Kinder und Erwachsene mit Kriegstraumata behandelt werden, (siehe auch hier und hier)


»Wir leben jetzt in einer Situation, in der der Bedarf nach psychologischer Hilfe nicht akut, sondern chronisch geworden ist.
Die Menschen sollten unbedingt wissen, an wen sie sich wenden können und zumindest ein paar einfache Möglichkeiten der Selbsthilfe kennen. Wir sind mit dieser Problematik auch an die Regionalverwaltung herangetreten, aber bislang gibt es nur unmittelbar entlang der Frontlinie in Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen solche Angebote für die Leute.
Die erste Folge eines Traumas ist immer ein Einbruch der Sicherheit und daraus entsteht posttraumatischer Stress (PTBS)*. Wir sind im vierten Kriegsjahr, wo alles ungewiss und nichts sicher ist und deswegen dauert es sehr lange, bis man diese Symptome eines Traumas wieder los wird.
Selbst für einen Durchschnittsbürger reicht es aus, wenn er Nachrichten sieht oder mit jemand auf der Straße über bestimmte Dinge redet, dass dies sein Trauma triggert. Weil nämlich alle Informationen, die auf die Menschen einfließen, ihnen kein Vertrauen in die Zukunft geben: Vielleicht gibt es wieder einen Angriff der Gegenseite oder militärische Aktionen auf unserer Seite. Diese Unsicherheitsgefühle haben sich im Lauf der Kriegsjahre summiert.
Die Menschen reagieren mit ihren Sinnen sehr unterschiedlich auf ein Trauma. Manche Menschen haben einen starken, visuellen Wahrnehmungssinn und für die reicht es aus, nur ein Bild zu sehen, das dann einen Flashback auslöst. Für andere Menschen ist es das Hören, sie haben vielleicht Explosionen gehört und schon ein Geräusch löst die Erinnerung an die Explosion aus. Der Geruch hat ebenfalls eine sehr starke Wirkung, zum Beispiel der Geruch von Schießpulver und der Geruch von Kellern. Viele Menschen von der Frontlinie, die lange Zeit in Kellern verbracht haben, berichten, dass der Geruch von Kellern bei ihnen Panikattacken auslöst. Das Trauma ist im Gedächtnis des Körpers verinnerlicht und es benötigt nur einen kleinen Reiz, um es wieder auszulösen. Während der Therapie versuchen wir herauszufinden, welche Art von Flashback sich gebildet hat. Wenn wir das herausgefunden haben, benötigen wir viel Zeit, um mit diesen Traumapatienten zu arbeiten.
Der posttraumatischen Stress (PTBS) bildet bei den Betroffenen ein Trauma Vortex* und das begleitet diese Menschen ihr Leben lang. Die kleinste Erinnerung an sein Trauma zieht den Patienten in den Vortex wieder hinein. Wir arbeiten genau mit diesem Trauma Vortex. Unsere Therapie ist dann wie eine Art Pendelbewegung, wo wir zwischen dem Ereignis aus der Vergangenheit und heute hin und hergehen. Wir fragen, was passierte damals, was hast du damals gefühlt und wie geht es dir jetzt. Wir gehen in die Vergangenheit und in die Gegenwart, immer im Wechsel, als würden wir stricken, d.h. wir versuchen beides zu verbinden.
Es gibt für schreckliche Ereignisse nur drei mögliche instinktive Reaktionen: totales Einfrieren, Wegrennen oder anfangen, zu kämpfen. Dies läuft nur auf einer instinktiven Ebene ab. Wir versuchen, dass es dem Patienten gelingt, in der Gegenwart zu bleiben, ohne immer wieder in die Vergangenheit gezogen zu werden. Gewöhnlich sagen die Leute, dass sie nicht über das Trauma nachdenken wollen, da es schmerzhaft und angstauslösend ist und weil Panikattacken, die folgen können, viel Energie verbrauchen. Aber dies beeinflusst das Leben und die Person kann in Depression verfallen oder - im Gegenteil - sehr impulsiv und aggressiv werden. Ein Trauma verursacht sehr starke emotionale Reaktionen. Wir schlagen den Patienten manchmal vor, sich vorzustellen, dass das auslösende Ereignis auf einem Bildschirm abläuft (Screening Methode) und nicht in ihnen selbst. Und das hilft ihnen, zu abstrahieren und eine Beobachterposition einzunehmen.
Eine andere Methode ist die Desensibilisierung. Dann arbeiten wir mit beiden Gehirnhälften und versuchen, sie auszubalancieren. Wir triggern emotionale Reaktionen und bringen den Menschen gleichzeitig Atemtechniken bei, die ihnen helfen damit umzugehen.
Vom Gehör her können Kinder sehr gut die Richtung eines Beschusses heraushören. Die Kinder von der Frontlinie sind sehr kompetent bei der Einordnung von Geräuschen. Wenn ein Fremder an die Frontlinie kommt, würde er sofort Panikattacken bekommen. Aber die Kinder dort sind absolut ruhig und haben sich an die Situation angepasst. Wenn wir sie jedoch aus dem Frontgebiet rausholen, dann erschrecken sie sich vor anderen Geräuschen z.B. Türknallen und vor Stille. Sie fanden es in der Nichtkampfzone zu still. Sie hatten sich an die Schießereien gewöhnt und brauchen wieder Zeit, um sich der neuen Situation anzupassen.
Wenn wir mit Kinder arbeiten, hängt es vom Alter ab, ob wir eher auf einer emotionalen oder rationalen Ebene arbeiten. Bei sehr kleinen Kindern ist es unmöglich, mit ihnen über die Ereignisse zu sprechen. Man kann nur mit ihnen spielen. Man sollte das Kind in diesem Spielprozess unterstützen, damit es dadurch sein Trauma ausdrücken kann. In diesem Zusammenhang ist die Kunsttherapie sehr hilfreich. Kleine Kinder haben noch kein entwickeltes Vokabular und kein Bedeutungskonzept. Das Kind kann sagen, ich habe Angst oder ich möchte weinen, aber ein Gespräch wie mit Erwachsenen funktioniert nicht. Was geht, sind Spiele, Interaktionen, Malen, Tanz und Musik und all diese Dinge zusammen. Mit Jugendlichen hingegen kann man schon eher über die Ereignisse sprechen und mit ihnen über ihre Meinungen und Eindrücke reden.
Viele kleine Kinder entlang der Frontlinie haben Sprachprobleme und für mich ist das nicht verwunderlich. Wenn das Kind zum Beispiel drei Jahre alt war bei Kriegsbeginn, befindet sich das Kind jetzt infolge des andauernden Krieges in einer Poststresssituation und das Kind möchte sich nicht weiterentwickeln. Es will lieber klein sein und stehen bleiben. Diese Kinder stoppen ihre emotionale, verbale Entwicklung auch, weil die Erwachsenen und Eltern selbst betroffen sind und ihnen keine Unterstützung geben können. Es fehlen im Frontgebiet die entsprechenden Spezialisten, zum Beispiel Logopäden, die mit den Kindern regelmäßig arbeiten sollten.
Wenn wir mit Traumakindern sprechen, schauen wir zuerst, ob das Kind auch bereit ist, über das Trauma zu reden. Wir nähern uns den Kindern mit sehr kleinen Schritten, wenn diese ihre Gefühle ausdrücken oder über sie sprechen möchten. Das Kind versteht am Anfang nicht, warum es weint. Erst wenn z.B. die Mutter auf die Gefühle des Kindes richtig reagiert, lernt das Kind, was mit ihm passiert. Aber leider können nicht alle Eltern entsprechend auf die Gefühle ihrer Kinder eingehen, weil sie zu müde sind oder viel arbeiten.
Wir als Psychologen übernehmen dann die Rolle der Mutter und versuchen den Kindern zu erklären, was in ihnen vorgeht. Wenn die Kinder verstehen, was in ihnen passiert, dann entdecken sie auch ihre Bedürfnisse und was ihnen hilft. Wenn das Kind Angst hat, braucht es Sicherheit bzw. eine Person, die diese Sicherheit für es verkörpert. Dann kann das Kind um Hilfe fragen. Zuerst bauen wir immer eine sichere Umgebung und Vertrauen auf, der Psychologe wird also zu dem Erwachsenen, an den sich das Kind halten kann. Und erst, wenn Vertrauen, Akzeptanz und Hilfe aufgebaut sind, wird das Kind verstehen, dass es keine Angst mehr haben muss. Und sehr langsam wird sich das Kind an bestimmte Momente erinnern. Wir sollten auf keinen Fall das Kind dazu drängen, sondern hingegen unsere Arbeit immer an die Geschwindigkeit des Kindes anpassen, damit es die Informationen verarbeiten kann. Direkt über das Ereignis zu sprechen und das Kind dort hinzudrängen, ist nicht erlaubt.
Besonders die Verhaltenstherapie ist in unserer Arbeit effektiv. Alle unsere Möglichkeiten in dieser Therapieform führen zu schnellen Stabilisationen. Und danach kann man mit Gestalttherapie etwas tiefer in die Dinge eintauchen. In der CBT (Cognitive Behavioral Therapy) gibt es 12 Sitzungen, die wirklich zu einem Ergebnis führen.

promir

Unsere Schwierigkeit im Jahr 2014 war, diese Therapie auch in der Praxis systematisch anzuwenden, z.B. mit PTBS-Patienten. Nachdem wir viele Kollegen getroffen haben, die in Tschetschenien und Bosnien tätig waren, profitierten wir von deren praktischen Erkenntnissen und nun wissen wir auch, wie wir damit arbeiten müssen.
Das Problem in den besetzten Gebieten ist, dass junge und praktisch erfahrene Psychologen dieses Gebiet verlassen haben und jetzt gibt es dort fast nur noch ältere Psychologen, die schon im Ruhestand sind und keinen Platz mehr finden, wohin sie gehen können. Es gibt nur sehr wenige, junge Psychologen in den besetzten Gebieten und viele von ihnen sind ausgebrannt, weil sie sich selbst in einer PTBS-Situation befinden. Bislang wurden die Hilfsmaßnahmen von internationalen Organisationen wie UNICEF oder OSZE finanziert, aber nun beenden diese Organisationen ihre Unterstützung und verlangen, dass staatliche Stellen die Finanzierung übernehmen. Ich kann dieses Vorgehen von UNICEF gut verstehen, dass also staatliche Stellen jetzt diese Aufgabe übernehmen sollen. UNICEF hat nur am Anfang Hilfe geleistet und nun müssen wir selbst Verantwortung übernehmen.
Ich habe auch mit Soldaten gearbeitet und es war sehr schwierig. Wir Psychologen werden von ihnen nicht als gleichwertig angesehen und akzeptiert, weil wir nicht am Krieg teilgenommen haben. Sie sagen, wir verstünden sie nicht, da wir niemals direkt an der Front waren. Sie haben kein Vertrauen in eine lang andauernde Therapie und hoffen nur, möglichst schnell psychologische Probleme zu lösen. Meine Idee wäre es, Psychologen auszubilden, die zuvor als Soldat gearbeitet haben. Von mir wollen Soldaten nur Ratschläge haben, doch wenn ich tiefer in ihre Probleme eintauchen möchte, sagen sie nur, dass ich sie nicht verstehen würde.
Ich habe persönlich jedoch ein großes Interesse an diesen Fällen und habe schon mit vielen Soldaten aus dem Kampfgebiet gesprochen. Wenn ein Soldat aus dem Kampfgebiet in seine Familie zurückkommt, dann verändert dies das gesamte Familienleben. Das Gehirn der Soldaten, die lange an der Front waren, ändert sich total. Im Kampfeinsatz wird bei Soldaten im Gehirn die Amygdala* überstimuliert und wenn sie aus dem Kampf zurückkommen, ist diese Überstimulation immer noch vorhanden. Der kleinste Auslöser im Alltag ruft heftige und riesige Reaktionen hervor. Wenn ein Soldat in seine Familie zurückkehrt, muss man mit der ganzen Familie arbeiten und für mich sollte es so sein, dass die Therapie mit der Familie bereits beginnt, wenn der Soldat seine Familie zum Kampfeinsatz verlässt. Fachleute könnten ihm erklären, was passieren und wie sich sein Verhalten verändern kann. Und welche neuen, emotionalen Reaktionen sich einstellen können. So verstünde die Familie, dass die Person, die sie verlassen hat, ein bisschen anders sein wird, wenn sie wiederkommt. Nicht weil sie eine schlechte Person ist, sondern weil sich deren Funktionen verändert haben.
Nach ihrem Einsatz werden diese Veteranen sehr rechthaberisch. Sie hatten die enge Gemeinschaft mit ihren Genossen, in der sie nur unter sich waren. Diese Gemeinschaft ist eine nützliche Sache im Krieg, aber wenn sie zurückkommen, ist alles anders, unwichtig, kleinlich und bedeutungslos. Die Kriegsveteranen haben einen völlig anderen Lebenssinn. Es sollte ein staatliches Programm geben, das für Soldaten, Familien und ihre Kinder verantwortlich ist. Für die Kinder dieser Familien ist es ebenfalls schwierig, da ihre Väter ungewohnt reagieren und sich mental immer noch in einer Art Kriegszustand befinden. Die Aggressionen und die Konfliktbereitschaft dieser Väter werden stark zunehmen.«

PTBS = Posttraumatische Belastungsstörung
Trauma Vortex ist eine Metapher für den chaotischen Wirbel in der Psyche als Nachwirkung eines Traumas
Amygdala ist ein Teil des Limbischen Systems, das bei der Wahrnehmung von Erregung aktiv ist
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